Kapitel 45
Rusty, 25. August 2009
Ich war dreizehn Jahre alt, als mir klar wurde, dass meine Eltern körperlich nicht zusammenpassten. Ihre Ehe war traditionell arrangiert worden. Er war ein bitterarmer, bestechend gut aussehender Flüchtling, und sie war eine unscheinbare alte Jungfer - dreiundzwanzig -, aus einer Familie, der das dreistöckige Mietshaus gehörte, in dem meine Mutter bis zu ihrem Tod wohnte. Ich bin sicher, sie war zu Anfang von ihm betört, wohingegen er wahrscheinlich nie vorgab, verliebt zu sein, und mit der Zeit immer griesgrämiger wurde.
Als ich ein Junge war, verschwand mein Vater jeden Freitagabend nach dem Essen. Ich freute mich darauf, um die Wahrheit zu sagen, weil es bedeutete, dass ich nicht eingeschlossen im Schlafzimmer meiner Mutter auf dem Boden schlafen musste, wo wir uns vor seinen häufigen Wutanfällen im Vollrausch versteckten. Als ich in die Grundschule ging, nahm ich an, mein Vater würde seine Freitagabende wie üblich in einer Kneipe oder beim Binokel verbringen, aber von diesen Zechtouren kam er nur selten nach Hause, sondern ging direkt zur Arbeit in die Bäckerei. Eines Freitagabends, ich war dreizehn, verursachte meine Mutter ein kleines Feuer in der Küche. Sie selbst erlitt den größten Schaden - sie war von Natur aus hypernervös und reizbar -, und als die Horde von Feuerwehrleuten ins Haus stürmte, konnte sie nur noch lauthals nach meinem Vater schreien.
Als Erstes lief ich in die Stammkneipe meines Vater, wo ein Bekannter von ihm - Freunde hatte er nämlich keine - Mitleid mit mir und meiner offensichtlichen Aufregung hatte und mir, als ich schon wieder gehen wollte, sagte: »He, Kleiner. Versuchs mal im Hotel Delaney drüben auf der Western.« Als ich dem Rezeptionisten dort sagte, ich müsse unbedingt Ivan Sabich finden, bedachte er mich mit einem wässrigen, traurigen Blick, knurrte aber letzten Endes eine Zimmernummer. Das Delaney war kein Hotel, in dem es Telefon auf den Zimmern gab. Und ich glaube, als ich schon die dreckige Treppe hoch und durch Flure lief, wo der Teppich abgewetzt war und es nach irgendeinem beißenden Ungezieferbekämpfungsmittel stank, schwante mir noch immer nicht, was mich erwarten würde. Aber als ich anklopfte, erkannte ich Ruth Plynk, eine Witwe, gut zehn Jahre älter als mein Vater, die im Unterrock durch den Türspalt nach draußen spähte.
Ich weiß nicht, warum sie die Tür öffnete. Vielleicht war mein Vater gerade auf dem Klo. Wahrscheinlich fürchtete er, der Rezeptionist wäre hochgekommen, um mehr Geld zu verlangen.
»Richten Sie ihm aus, das Haus brennt«, sagte ich und ging. Ich wusste nicht recht, was ich empfand - Scham und Zorn. Aber vor allem Ungläubigkeit. Die Welt, meine Welt war anders geworden. Danach saß ich wutschnaubend jeden Freitagabend am Tisch, weil mein Vater während des Essens summte, das einzige Mal in der Woche, dass er irgendwelche Laute von sich gab, die auch nur halbwegs nach Musik klangen.
Natürlich dachte ich in den verschiedenen Hotelzimmern, in denen ich mich mit Anna traf, kein einziges Mal daran, wie ich Ruth Plynk durch die geöffnete Tür angestarrt hatte. Erst als ich meinem Sohn von meiner Affäre erzählen musste, kam mir dieser Moment wieder in den Sinn, und in all den Monaten seitdem ist er immer sofort wieder da, wenn ich Nats offensichtliche Verunsicherung in meiner Gegenwart bemerke.
Auch jetzt, wo er vor meiner Tür steht, sehe ich sie ihm am Gesicht an. Als ich ihn gestern Abend anrief, um ihm zu sagen, dass ich endlich zurückkommen würde, um die Vereinbarungen zu unterschreiben, die Sandy ausgehandelt hat, sagte er, dass er mich besuchen wolle, aber er ist früher da, als ich dachte. Die erste Herbstluft hat heute immer wieder Regen gebracht. Er trägt ein Sweatshirt mit Kapuze, und heftiger Wind zerzaust ihm das dunkle Haar.
Ich bin auf eine elementare Art glücklich, meinen Sohn zu sehen, obwohl sein Anblick auch mit einem gewissen Schmerz einhergeht. Wir wollen das Beste für unsere Kinder, aber es gibt so vieles, das sich unserer Kontrolle entzieht. Nat hat eine nervöse Angespanntheit an sich, einen unsteten Blick, der, wie ich vermute, wohl nicht mehr verschwinden wird, und einen tief verwurzelten Ernst, den ich selbst seit über sechzig Jahren beim Blick in den Spiegel sehe. Ich öffne die Tür, wir umarmen uns kurz, und er tritt an mir vorbei ins Haus, stampft sich den Regen von den Schuhen.
»Kaffee?«, frage ich.
»Gerne.« Er nimmt am Küchentisch Platz und schaut sich um. Es kann nicht leicht für ihn sein, in dieses Haus zurückzukehren, in dem während des letzten Jahres so viel emotional Belastendes geschehen ist. Das Schweigen zieht sich in die Länge, bis er mich fragt, wie es mir in Skageon ergangen ist.
»Ich hab mich wohlgefühlt.« Ich bin nicht sicher, ob ich noch mehr sagen soll, beschließe aber aus vielerlei Gründen, dass Offenheit das Beste ist. »Ich hab ziemlich viel Zeit mit Lorna Murphy verbracht. Du weißt doch, die Nachbarin von nebenan?« Das riesige Sommerhaus der Murphys nimmt sich neben unserem kleinen Cottage riesig aus.
»Im Ernst?« Trotz allem, was in den letzten beiden Jahren war, wirkt er eher verwundert als schockiert.
»Sie hat mir im letzten Herbst geschrieben, nach dem Tod deiner Mom, und danach haben wir irgendwie weiter Kontakt gehalten.«
»Ach so. Trauerbewältigung«, sagt der ewige Besserwisser.
Und vielleicht ist da sogar was dran. Lorna hat ihren Mann Matt, einen Baulöwen, vor vier Jahren verloren. Sie ist schlank und blond, ein paar Zentimeter größer als ich, und sie hat einen irgendwie störrischen Glauben an mich bekundet. Ich hatte es darauf zurückgeführt, dass sie lange gebraucht hat, ehe sie überhaupt an einen anderen Mann denken konnte, und deshalb ihre Meinung nach meiner Verurteilung einfach nicht mehr ändern wollte. Sie schrieb mir wöchentlich, als ich im Gefängnis saß, und sie war die Erste, die ich anrief, als ich am Morgen nach meiner Freilassung nach Skageon fuhr. Ich hatte keine Ahnung, ob ich den Mut aufbringen würde, ihr ein Treffen dort oben vorzuschlagen, und letzten Endes musste ich das gar nicht. Sie erklärte, sie würde hochkommen, sobald ich sagte, dass ich dorthin unterwegs war. Es war für uns beide an der Zeit, mit jemand anderem zusammen zu sein.
Sie ist eine liebe Frau, ruhig, warmherzig, aber unabhängig. Ich vermute, dass sie nicht meine Zukunft sein wird. Das wird sich zeigen. Aber durch sie habe ich etwas erkannt. Wenn ich mich nicht in Lorna verliebe, werde ich mich in jemand anderen verlieben. Ich werde es wieder tun. Das liegt in meiner Natur.
»Ich wollte dich fragen, ob du da oben auch geangelt hast.«
»O ja, und wie. Vom Kanu aus. Hab zwei schöne Zander gefangen. Köstlich.«
»Tatsache? Ich würde gern mal jetzt im Herbst mit dir ein Wochenende angeln.«
»Das machen wir.«
Der Kaffee ist fertig. Ich gieße uns beiden ein und setze mich an den Küchentisch aus Kirschholz mit dem welligen Rand. Dieser Tisch hat Nats ganzes Leben lang hier gestanden, und seine Flecken und Kerben erzählen die Geschichte unserer Familie. Bei vielen kann ich mich noch an ihre Entstehung erinnern - missglückte Kunstprojekte für die Schule, Wutanfälle, Töpfe, die für ungeschütztes Holz zu heiß waren und die ich tollpatschig abstellte.
Nat blickt weg, denkt an irgendwas. Ich rühre in meinem Kaffee und warte.
»Kommst du mit der vielen Arbeit zurecht?«, frage ich nach einer Weile. Nat wird auch diesen Herbst in Nearing unterrichten, aber er soll zudem im Wintersemester am Easton College einen beurlaubten Professor vertreten und ein Seminar in Rechtswissenschaft geben. Er hat sehr viel Zeit in die Vorbereitung investiert. Außerdem arbeitet er wieder an seinem Aufsatz für die Easton Law Review, in dem er das juristische Konzept von wissentlichem Verhalten mit neueren Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung vergleicht. Es könnte eine richtungsweisende Arbeit werden.
»Dad«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst.«
»Okay«, sage ich. Ich spüre ein Stechen im Herzen.
»Über Mom«, sagt er.
»Sie hat Selbstmord begangen, Nat.«
Er schließt die Augen. »Nicht die offizielle Version. Ich will wissen, was wirklich passiert ist.«
»Genau das ist tatsächlich passiert.«
»Dad.« Wieder lässt er diese ständige Unruhe erkennen, diesen unsteten Blick. »Dad, eines der Dinge, die ich in diesem Haus immer gehasst habe, war, dass jeder hier Geheimnisse hatte. Mom hatte ihre Geheimnisse, und du hattest deine Geheimnisse, und du und Mom, ihr hattet zusammen Geheimnisse, also musste ich auch Geheimnisse haben, und ich hab mir immer bloß gewünscht, jeder von uns würde endlich mal den Mund aufmachen. Verstehst du das?«
Diesen Vorwurf verstehe ich vollauf und könnte ihn wahrscheinlich durch nichts entkräften.
»Ich will wissen, was wirklich mit Mom passiert ist. Was du weißt.«
»Nat, deine Mutter hat Selbstmord begangen. Ich mache mir nicht vor, dass mein Verhalten nichts damit zu tun hatte, aber ich habe sie nicht getötet.«
»Dad, das weiß ich. Denkst du, das wüsste ich nicht? Aber ich bin dein Sohn. Ich kenne dich, okay? Ich habe viel nachgedacht. Und zwei Dinge weiß ich mit Sicherheit. Erstens: Du hast nach ihrem Tod nicht vierundzwanzig Stunden hier rumgesessen, um deine Trauer zu verarbeiten, weil das offen gestanden überhaupt nicht zu dir passt. Du hast deine Gefühle immer unterdrückt, als würde jemand Baumwolle in einen Vorderlader stopfen. Vielleicht explodiert später alles. Aber du machst weiter. Du machst immer weiter. Normalerweise hättest du eine Weile geweint oder um Fassung gerungen oder den Kopf geschüttelt, aber du hättest zum Telefon gegriffen. Du hast hier gesessen und über irgendwas nachgedacht. Da bin ich mir absolut sicher. Und zweitens: Ich hab dich beobachtet, als du dich wegen Justizbehinderung schuldig bekannt hast. Und da warst du ruhig und abgeklärt. Du hast mit tiefster Überzeugung gesagt, du wärst schuldig. Ich weiß, dass du den Computer nicht manipuliert hast - das hast du ja auch zu Anna gesagt -, daher musst du dich für irgendwas schuldig bekannt haben, das du vor langer Zeit getan hast. Und ich behaupte, es hängt direkt mit Moms Tod zusammen. Hab ich recht?«
Kluger Junge. Der Sohn seiner Mutter. Schon immer ein sehr, sehr kluger Junge. Ich bringe ein schwaches, leicht stolzes Lächeln zustande und nicke.
»Also«, sagt er. »Ich will jetzt alles wissen.«
»Nat, deine Mutter war deine Mutter. Was ich für sie war oder sie für mich, ändert nichts daran. Ich habe nicht versucht, dich wie ein Kind zu behandeln. Glaub mir, ich habe mich selbst gefragt, ob ich die Dinge, die ich dir nicht erzählt habe, würde wissen wollen, und ehrlich gesagt, ich würde sie nicht wissen wollen. Bitte nimm dir einen Moment Zeit und denk darüber nach.«
Auf niemanden wird Nat je so wütend wie auf mich. Wut auf seine Mutter war zu gefährlich. Ich bin als Ziel weniger riskant, und die Art, wie ich mich ihm seiner Meinung nach immer entzogen habe, oder es zumindest versucht habe, erzürnt ihn. Doch der Groll, der sein Gesicht verschließt, der seine blauen Augen verdunkelt, ist natürlich Barbaras.
»Okay«, sage ich. »Okay. Die Wahrheit ist, deine Mutter hat sich selbst getötet. Und ich wollte nicht, dass du und andere es erfahren. Ich wollte nicht, dass du damit leben musst, dass du die Last tragen musst, die Kinder von Selbstmördern unweigerlich mit sich rumschleppen. Und ich wollte nicht, dass du nach dem Warum fragst. Oder erfährst, womit ich sie zu dem Schritt getrieben hatte.«
»Die Affäre?«
»Die Affäre.«
»Okay. Aber wie ist sie gestorben?«
Ich hebe eine Hand. »Ich erzähl's dir. Ich erzähl dir alles.« Ich hole tief Luft. Mit meinen zweiundsechzig Jahren habe ich noch immer die Empfindlichkeiten des Kindes mit dem serbischen Vater, das in der Schule nie beliebt war. Ich war clever, und schon als kleiner Junge legte man sich auf dem Schulhof besser nicht mit mir an - ich konnte brutal werden, wenn ich mich provoziert fühlte. Aber ich war nicht beliebt - niemand traf sich am Wochenende mit mir, niemand lud mich zum Geburtstag ein oder alberte mit mir in der Pause herum. Ich war allein und fürchtete mich davor, was diese Isolation über mich aussagte. Obgleich ich immer nur in Kindle County gelebt habe, hier die Grundschule besuchte, in die Highschool ging, hier studierte und über fünfunddreißig Jahre als Jurist tätig war, habe ich keinen besten Freund, vor allem seit Dan Lipranzer, der Detective, mit dem ich als Staatsanwalt am liebsten zusammenarbeitete, aufgrund seiner rheumatoiden Arthritis nach Arizona gegangen ist. Das soll nicht heißen, dass ich mich nie amüsieren oder die Gesellschaft netter Kollegen wie George Mason genießen kann. Aber ich habe niemanden, dem ich mich wirklich tief verbunden fühle. Ich denke, dass Anna das von mir wusste und es sich zunutze machte. Aber irgendwie habe ich meine größten Hoffnungen immer an meinem Sohn festgemacht. Was keine faire Aufgabe für ein Kind ist. Jedenfalls hatte ich infolgedessen schon immer besonders große Angst davor, von Nat abgelehnt zu werden. Jetzt muss ich all meinen Mut zusammennehmen.
»An dem Tag, als du mit Anna zum Abendessen kamst, hatte ich im Garten gearbeitet.«
»Den Rhododendron gepflanzt.«
»Genau, den Rhododendron für deine Mutter eingepflanzt. Und ich hatte fürchterliche Rückenschmerzen. Vor dem Abendessen gab sie mir dann vier Advil.«
»Daran erinnere ich mich.«
»Aber ich hab sie nicht genommen. Ich war von der Situation abgelenkt - du mit Anna zusammen. Ich hab sie einfach vergessen. Als ihr dann wieder weg wart und ich mich fertig machte, um ins Bett zu gehen, brachte deine Mutter mir die Tabletten nach oben. Sie legte sie auf den Nachttisch. Sie sagte, ich sollte sie nehmen, sonst würde ich morgen gar nicht mehr aus dem Bett kommen, und sie ging ins Bad, um mir ein Glas Wasser zu holen. Und ich weiß nicht, Nat. Die Phenelzintabletten - die sehen genauso aus wie die Advil. Dieselbe Größe, dieselbe Farbe. Irgendwer hat das im Prozess sogar mal ausdrücklich erwähnt. Aber bei aller Ähnlichkeit war doch irgendwo ein Unterschied, winzig klein, aber sie waren anders. Ich hab die Tabletten nie nebeneinandergelegt, um genau festzustellen, was mir da komisch vorkam, aber ich nahm sie in die Hand und starrte lange darauf, und als ich wieder aufsah, stand deine Mutter mit dem Glas Wasser vor mir, und, ehrlich, Nat, das war ein heftiger Moment.«
»Weil?«
»Weil sie ganz kurz, ein paar Sekunden lang, richtig glücklich war. Vergnügt. Triumphierend. Sie war glücklich, dass ich es wusste.«
»Dass du was wusstest?«, fragt er.
Ich starre meinen Sohn an. Etwas zu wissen kann die schwierigste Aufgabe sein, der Menschen sich stellen müssen. »Dass sie versucht hat, dich zu töten?«, fragt er schließlich.
»Ja.«
»Mom wollte dich töten?«
»Sie war in der Bank gewesen. Sie hatte meine E-Mails durchgesehen. Sie wusste, was sie wusste. Und sie war mörderisch wütend.«
»Und sie hatte beschlossen, dich zu töten?«
»Ja.«
»Meine Mutter war eine Mörderin?«
»Nenn es, wie du willst.«
Jetzt, wo er es gehört hat, fällt es ihm schwer, etwas zu sagen. Ich kann sehen, wie ihm die Fingerspitzen vom Pulsschlag zucken. Es ist ein schlimmer Moment für uns beide.
»O Gott«, sagt mein Sohn. »Du sagst mir da gerade, dass meine Mutter eine Mörderin war.« Er schnaubt, und dann sagt er mit seiner katzenschnellen Logik: »Na ja, ein Elternteil muss es ja wohl sein, richtig?«
Nach einem Moment verstehe ich: Entweder ich lüge, weil ich sie ermordet habe, oder das ist die Wahrheit.
»Richtig«, sage ich.
Er nimmt sich noch einen Moment Zeit für sich, starrt den Kühlschrank an. Da hängen immer noch die Weihnachtsfotos von vor über anderthalb Jahren. Die neugeborenen Babys, die glücklichen Familien.
»Sie wusste, wer die Frau war?«
»Wie gesagt, sie hatte meine E-Mails durchgesehen.«
»Ich werde dich nicht bitten, es mir zu sagen -«
»Gut. Weil ich das nämlich nicht tun werde.«
»Aber es muss sie wirklich stinksauer gemacht haben.«
»Ich bin sicher, sie war außer sich. Und nicht bloß ihretwegen. Sie wollte auch andere Leute schonen.«
»Dann war es die Tochter von irgendwem. Von einem deiner Freunde? Es muss jemand gewesen sein, der ihr nahestand.«
»Schluss jetzt, Nat. Ich darf die Privatsphäre eines anderen Menschen nicht verletzen.«
»War es Denise? Das war immer mein Verdacht. Dass du was mit Denise angefangen hast.«
Denise ist die Tochter von Barbaras jüngstem Onkel, ein paar Jahre älter als Nat. Eine hinreißende junge Frau, die ein ziemlich bewegtes Leben geführt hat und derzeit ihrem zweijährigen Kind zuliebe in einer problematischen Ehe mit einem Polizisten bleibt.
»Lass gut sein, Nat. Ich hab mich wie ein absoluter Vollidiot benommen. Das ist alles.«
»Das weiß ich, Dad.«
Touche. Er sitzt am Tisch und schaut wieder weg, ringt erneut mit seiner Enttäuschung. Ich stelle mir vor, was er denkt: Mom hatte recht. Es wäre leichter gewesen ohne mich. Wenn einer von uns beiden gehen musste, wenn ich eine Situation herbeigeführt hatte, in der er nur noch einen Elternteil haben konnte, dann sollte das lieber Barbara sein. Genau zu dem Schluss war Barbara gekommen, zumal ich kein Recht hatte, Nats Glück mit Anna zu gefährden.
Nat seufzt schwer und nimmt sich einen Moment Zeit, um endlich seine Jacke auszuziehen.
»Okay. Du hast Mom also angesehen. Und sie hatte so ein irres Leuchten in den Augen.«
»Ich würde es nicht ganz so ausdrücken. Aber ich hab die Tabletten angesehen und dann sie, hin und zurück, und es war wirklich so ein Moment, in dem einem das Blut in den Adern gefriert. Ich glaube, ich hab dann irgendwas Blödes oder Offensichtliches gesagt wie >Ist das Advil?<, und sie hat gesagt: >So was Ähnliches<. Und ich hab wieder auf die Tabletten gestarrt. Nat, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Irgendwas stimmte nicht, aber ich weiß nicht, ob ich sie geschluckt hätte oder gesagt hätte, >Zeig mir die Packung<, und ich werde es auch nie erfahren, weil sie auf einmal vortrat, mir blitzschnell die Tabletten aus der offenen Hand nahm und sie alle vier schluckte. In einer einzigen fließenden Bewegung, deinetwegen«, sagte sie, und dann drehte sie sich offenbar beleidigt um. Ich dachte, es wäre einfach typisch deine Mutter.«
»Sie wollte lieber sterben als erwischt werden?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen. Ich glaube, sie hatte sich vorgestellt, es mehr genießen zu können, mir dabei zuzusehen, wie ich mich töte. In ihr muss ein Wirrwarr von Gefühlen gewesen sein, unter anderem auch eine große Scham.«
»Sie hat dich vor ihr selbst gerettet?«
Ich nicke. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, aber es ist gut, wenn ein Sohn das über seine Mutter denkt.
»Das Phenelzin«, sagt er. »Einfach nur, weil es zufällig genauso aussah wie die Tabletten, die du regelmäßig genommen hast?«
»Die Ähnlichkeit ist ihr wahrscheinlich schon vor Jahren aufgefallen. Und darin sah sie ihre Chance. Aber ich denke, entscheidender war, dass es so aussehen sollte, als wäre ich eines natürlichen Todes gestorben. Damit keiner je Verdacht schöpfen würde.«
»So wie Harnason das versucht hat.«
»Genau wie Harnason. Ich bin sicher, es hat sie mit einer gewissen Genugtuung erfüllt, die Anleitung für den Mord an mir in meinen eigenen Prozessakten zu finden.«
Er lächelt ein wenig kläglich, was ich als ungebrochene Bewunderung für seine Mutter auffasse.
»Aber sie hatte sich zusätzlich abgesichert«, sage ich. »Falls die Phenelzinüberdosis doch entdeckt werden würde, würde sie sagen, ich hätte Selbstmord begangen. Deshalb hat sie dafür gesorgt, dass ich das Fläschchen abholte und wegräumte, als ich nach Hause kam, damit ich Fingerabdrücke hinterließ. Deshalb hat sie mich losgeschickt, um Wurst und Käse und Wein einzukaufen. Eine der Recherchen über Phenelzin und seine Nebenwirkungen war schon auf meinem Computer gemacht worden. Sie hat mit Netz und doppeltem Boden gearbeitet.«
Er nickt. Das alles leuchtet ihm ein.
»Okay, aber was hätte sie gesagt, wäre dein Motiv gewesen, dich so kurz vor der Wahl umzubringen? Du warst kurz vor dem Höhepunkt deiner Laufbahn, Dad.«
»Genau das macht Menschen manchmal Angst, Nat. Und außerdem war da die Scheidung, meine Termine bei Dana. Im Jahr davor hatte ich einen Rückzieher gemacht, also hätte sie sagen können, dass ich es einfach nicht ertragen konnte.«
»Hätte sie nicht ziemlich schlecht dagestanden, wenn sie damit erst hinterher rausgerückt wäre?«
»Sie hätte ein bisschen geweint. Wer hätte denn nicht geglaubt, dass eine verzweifelte Witwe den Ruf ihres prominenten Gatten schonen wollte, von ihrem sensiblen Sohn ganz zu schweigen? Sie hätte gesagt, das Phenelzinfläschchen hätte auf meinem Waschbecken gestanden, als sie mich fand, und da nur meine Fingerabdrücke darauf waren, hätte das ihre Geschichte bestätigt. Aber kein Mensch hätte irgendwelche Fragen gestellt. Tommy Molto als Leiter der Staatsanwaltschaft hätte doch bloß gesagt, gut, dass er weg ist. Außerdem hätten sie ruhig das ganze Haus auf den Kopf stellen können. Sie hätten nichts gefunden, wonach sie suchten - kein Mörser mit Stößel, keine Rückstände von pulverisiertem Phenelzin. Sie hätten meine Leiche exhumieren können und nichts gefunden, was der Version widersprochen hätte, dass ich freiwillig eine Überdosis Phenelzin genommen hatte. Denn genau daran wäre ich ja auch tatsächlich gestorben.«
Er befingert seine Kaffeetasse, während er über das alles nachdenkt. Und erst jetzt beginnt er zu weinen, was ich schon die ganze Zeit erwartet hatte.
»Herrgott, Dad. Ehrlich. Dieser ewige Anwalt in dir. Manchmal bist du wie Mr Spöck. Das hab ich vorhin gemeint. Du hättest unmöglich hier rumsitzen können und trauern. So bist du nicht. In solchen Situationen wirst du eiskalt. Als wärst du Lichtjahre entfernt. Du redest über sie, als wäre sie eine Serienmörderin gewesen, oder ein Auftragskiller, verstehst du, jemand, der sich darauf versteht, Menschen zu töten. Dabei war sie eine extrem zornige, extrem verletzte Person.«
»Nat«, sage ich und dann nichts mehr. So war das schon immer, mein Unmut über ihn drückt sich nur dadurch aus, dass ich seinen Namen ausspreche. Es wäre sinnlos, ihn daran zu erinnern, dass das die Wahrheit ist, die er hören wollte. Er geht zum Spülbecken, holt ein Stück Küchenpapier, um sich die Augen zu trocknen und die Nase zu putzen.
»Wie bist du auf das alles gekommen, Dad?«
»Langsam. Dafür hab ich den Tag gebraucht.«
»Aha.« Er setzt sich wieder. Dann signalisiert er mir mit einem Wink, dass ich weiterreden soll.
»Als ich aufwachte, war das Laken nass, weil sie so geschwitzt hatte. Und deine Mom war tot. Zuerst dachte ich: Herzversagen. Ich habe Wiederbelebungsversuche gemacht, und dann bin ich zum Telefon auf dem Nachttisch. Und da hab ich einen Stapel Papiere gesehen, unter dem Glas Wasser, das sie mir gebracht hatte, um die Tabletten zu nehmen.«
»Was für Papiere?«
»Die Unterlagen aus der Bank. Die Empfangsbestätigung von Danas Kanzlei. Kopien der Barüberweisungen und Schecks, mit denen ich Danas Rechnungen und die Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten bezahlt hatte. Bankauszüge, auf denen die Einzahlungsbeträge umkringelt waren. Sie hatte sie offensichtlich da hingelegt, als ich eingeschlafen war.«
»Warum?«
»Das war ihre Version eines Abschiedsbriefes. Sie wollte mich wissen lassen, dass sie Bescheid gewusst hatte.«
»Ah«, sagt mein Sohn.
»Ich war natürlich entsetzt. Und nicht gerade glücklich über mich. Aber mir wurde klar, wie wütend sie gewesen war. Und dass das eindeutig kein Unfall war. Ich bin dann ziemlich schnell auf die Tabletten gekommen und habe mich gefragt, was sie genommen hat, das sie eigentlich mir geben wollte. Also bin ich zu ihrem Arzneischrank. Und das Fläschchen Phenelzin stand ganz vorne. Ich hab es genommen und aufgemacht, hab reingesehen, um mich zu vergewissern, dass das die Tabletten waren. Davon kamen meine übrigen Fingerabdrücke.
Dann hab ich mich an meinen Computer gesetzt, um mehr über dieses Zeug rauszufinden. Und du weißt doch, wie der Browser deinen Suchbegriff vervollständigt, wenn du ihn schon mal verwendet hast, nicht? >Phenelzin< erschien sofort. Da wurde mir klar, dass sie an meinem PC gewesen war. Ich bekam sofort Angst, dass sie meine E-Mails gelesen hatte. Als ich nachschaute, hab ich gesehen, dass sie die betreffenden Mails gelöscht hatte.«
»Von dieser Frau? Ziemlich blöd von dir, die draufzulassen, Dad.«
Ich zucke die Achseln. »Ich hätte nie gedacht, dass deine Mom so rumschnüffeln würde. Sie wäre ausgerastet, wenn ich je auch nur einen Blick in ihre E-Mails gewagt hätte.«
In Wahrheit wusste ich natürlich, dass ich ein gewisses Risiko einging, aber ich brachte es nicht über mich, diese Nachrichten zu löschen, die einzige Erinnerung an eine Zeit, nach der ich mich immer noch oft sehnte. Aber das kann ich meinem Sohn nicht sagen.
»Warum hat sie die gelöscht? Oder auch die E-Mails von Dana?«
»Deinetwegen.«
»Meinetwegen?«
»Das vermute ich zumindest. Wenn alles so gelaufen wäre, wie sie es geplant hatte, wenn mein Tod als natürlicher Tod eingestuft worden wäre, hätte die Möglichkeit bestanden, dass du meine Mails durchsiehst, nicht aus Neugier, sondern um dich an deinen Vater zu erinnern, so wie Trauernde alte Briefe durchgehen. Sie hat das E-Mail-Konto sozusagen zensiert, um deine Erinnerung an mich zu schützen. Und wäre es wider Erwarten doch zu einer Untersuchung gekommen, hätte es ihren Zwecken gedient, dass diese Mails verschwunden waren.«
»Inwiefern?«
»Weil auf diese Weise sichergestellt war, dass keiner die Geschichte deiner Mutter hätte anfechten können. Da sie in der Bank nachgefragt hatte, hätte sie zugeben müssen, dass sie von meiner Affäre im Jahr zuvor wusste. Aber sie hätte sagen können, dass sie nicht wusste, mit wem. Es wäre rausgekommen, dass ich zwar mit dem Gedanken gespielt hatte, mich scheiden zu lassen, aber aus unerfindlichen Gründen nicht die Scheidung eingereicht hatte. Vielleicht hatte mich die Geliebte verlassen, als ich ihr sagte, ich würde meine Frau verlassen wollen. Und da so vieles für Selbstmord gesprochen hätte, wäre es nie zu einer gründlicheren Ermittlung gekommen.«
Wieder lässt er sich alles durch den Kopf gehen.
»Wo sind diese Bankunterlagen eigentlich geblieben? Die auf dem Nachttisch?«
Ich lache. »Du bist schlauer als Tommy und Brand. Nachdem die Frau von der Bank ausgesagt hatte, dass sie deiner Mom die Dokumente zur Verfügung gestellt hatte, hab ich darauf gewartet, dass die Ankläger fragen, was zum Teufel denn aus den Kopien geworden ist. Das Haus wurde ja mehrfach auf den Kopf gestellt. Aber es ging alles so schnell, und außerdem sind sie vielleicht davon ausgegangen, dass Barbara sie vernichtet hatte.«
»Aber das hast du getan, nicht?«
»Ja. Ich hab sie zerrissen und die Schnipsel im Klo runtergespült. An dem Tag. Nachdem ich alles durchdacht hatte.«
»Und dich dadurch der Justizbehinderung schuldig gemacht.«
»Genau«, bestätige ich. »Meine Aussage im Prozess war nicht gerade freimütig. Es gab vieles, was ich nicht gesagt habe, aber hätte sagen müssen, wenn ich die volle Wahrheit gesagt hätte. Trotzdem denke ich nicht, dass ich einen Meineid begangen habe. Es war ganz sicher nicht meine Absicht, weil es mein gesamtes Berufsleben ad absurdum geführt hätte. Aber an dem Tag, als deine Mutter starb, habe ich Beweismittel vernichtet. Ich habe die Polizei in die Irre geführt. Ich habe die Justiz behindert.«
»Weil?«
»Das hab ich dir schon erklärt. Ich wollte nicht, dass du weißt, wie deine Mutter gestorben ist oder welche Rolle mein dummes Verhalten dabei spielte. Nachdem ich mich über Phenelzin informiert hatte, war ich mir so gut wie sicher, dass der Rechtsmediziner einfach von Herzversagen ausgehen würde. Die größte Hürde würde Molto sein, deshalb wäre mir am liebsten gewesen, wenn wir Polizei und Rechtsmediziner einfach hätten vermeiden können, aber das hast du nicht zugelassen. Das Bestattungsunternehmen hätte vermutlich auch darauf bestanden, aber ich wollte es versuchen.«
Nat blickt lange in seine Kaffeetasse, dann steht er wortlos auf und schenkt sich nach. Er gibt Milch hinzu, setzt sich und nimmt wieder dieselbe Haltung ein. Ich weiß, dass er Für und Wider abwägt. Ob er mir glauben soll oder nicht.
»Es tut mir leid, Nat. Es tut mir leid, dass ich dir das alles erzähle. Ich wünschte, es gäbe irgendwelche anderen Schlussfolgerungen, die man ziehen könnte. Es ist, wie es ist. Man kann nie richtig abschätzen, was passieren wird, wenn die Dinge einmal schieflaufen.«
»Warum hast du das alles nicht im Prozess gesagt, Dad?«
»Weil ich nach wie vor nicht wollte, dass du das über deine Mutter erfährst, Nat. Doch das größte Problem wäre mein Geständnis gewesen, dass ich die Polizei angelogen und die Papiere deiner Mutter vernichtet hatte. Du weißt schon, >Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht< und so weiter. Die Geschworenen hätten nicht viel Verständnis für einen Richter gehabt, der die Polizei hinters Licht führt. Ich habe so viel von der Wahrheit erzählt, wie ich konnte, Nat. Und ich habe nicht gelogen.«
Er blickt mich lange an, während ihm weiter dieselbe Frage durch den Kopf kreist, und ich sage zu ihm: »Ich hab mich selbst ganz schön in den Schlamassel geritten, Nat.«
»Das kann man wohl sagen.« Er schließt die Augen und bearbeitet ein paar Sekunden lang seinen Nacken. »Was willst du jetzt machen, Dad? Was fängst du jetzt an?«
»Sandy hat die Vereinbarungen heute Nachmittag für mich zur Unterschrift fertig.«
»Wie geht's ihm?«
Ich klopfe auf den Holztisch.
»Und welchen Deal hat er ausgehandelt?«, fragt Nat.
»Ich gebe das Richteramt auf, wegen der Sache mit Harnason. Aber ich darf meine Pension behalten. Die beläuft sich auf neunzig Prozent meiner drei besten Jahre, also bin ich finanziell abgesichert. Außerdem hat mir deine Mutter ein ordentliches Erbe hinterlassen. Es gibt übrigens schon Gerüchte, wer mich am Berufungsgericht ersetzen wird. Rate mal, welchen Namen Sandy am häufigsten hört.«
»N.J. Knoll?«
»Tommy Molto.«
Er schmunzelt, lacht aber nicht. »Und was wird mit der Anwaltskammer? Was wird aus deiner Zulassung als Anwalt?«
»Nichts. Ich behalte sie. Die Verurteilung wegen Justizbehinderung ist null und nichtig. Und richterliches Fehlverhalten fällt normalerweise nicht in deren Zuständigkeitsbereich.«
»Gut, und was wirst du tun?«
»Ich hatte ein paar Sondierungsgespräche mit dem Büro der Pflichtverteidiger oben in Skageon. Die können immer Leute gebrauchen. Ich hab mir gedacht, das wäre ganz interessant, nachdem ich so lange Ankläger und Richter war. Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer da oben bleibe oder doch irgendwann versuche, wieder hier Fuß zu fassen. Ich werde erst mal ein oder zwei Jahre abwarten, bis Gras über die ganze Sache gewachsen ist.«
Mein Sohn sieht mich an und denkt darüber nach. Seine Augen werden feucht.
»Es zerreißt mir einfach das Herz, wenn ich an Mom denke. Ich meine, stell dir das doch mal vor, Dad. Sie schluckt diese Pillen und weiß, was sie sich damit antut. Und anstatt in die Notaufnahme zu fahren, nimmt sie einfach eine Schlaftablette und legt sich zum Sterben ins Bett neben dich.«
»Ich weiß«, antworte ich.
Nat putzt sich wieder die Nase, dann steht er auf und geht zur Tür. Ich bleibe drei Stufen über ihm stehen und schaue ihn an. Er hat die Hand schon an der Klinke.
»Dad, nimm es mir nicht übel, aber ich glaube immer noch nicht, dass du mir alles erzählt hast.«
Ich hebe die Hände, als wollte ich sagen: Was denn noch? Er starrt mich an, dann kommt er zurück und breitet die Arme aus. Wir klammern uns einen kurzen Moment aneinander.
»Ich liebe dich, Nat«, sage ich dicht an seinem Ohr.
»Ich liebe dich auch«, antwortet er.
»Grüß Anna«, sage ich.
Er nickt und geht. Durchs Küchenfenster beobachte ich, wie er die Einfahrt hinunter zu Annas kleinem Auto geht. Wir haben ihn mit unseren Sorgen vollgestopft, Barbara und ich. Aber er wird klarkommen. Wir haben unser Bestes getan, jeder von uns, auch wenn wir manchmal zu bemüht waren, wie viele Eltern unserer Generation.
Aber im Laufe der Zeit habe ich mehr Fehler gemacht als nur diesen einen. Der größte von allen war wahrscheinlich vor zwanzig Jahren meine Weigerung zu akzeptieren, dass Veränderung unvermeidlich war. Anstatt mir ein neues Leben vorzustellen, heuchelte ich die Fortsetzung des alten. Und dafür habe ich weiß Gott teuer bezahlt. In dunkleren Stunden habe ich das Gefühl, dass der Preis zu hoch war, dass das Schicksal sich unmäßig an mir gerächt hat. Doch die meiste Zeit, wenn ich darüber nachdenke, wie viel schlimmer alles hätte kommen können, erkenne ich, dass ich Glück hatte. Eigentlich spielt das keine Rolle. Ich werde weitermachen. Daran habe ich nie gezweifelt.
Meine ersten Tage in Freiheit waren nicht leicht. Ich war nicht an andere Menschen oder viele Sinnesreize gewöhnt. In Lornas Gegenwart war ich schreckhaft, und während der ersten Woche schlief ich keine Nacht durch. Aber ich kehrte zu mir selbst zurück. Das Wetter war herrlich, ein strahlender Tag nach dem anderen. Ich stand vor ihr auf, und um sie nicht zu wecken, setzte ich mich in meiner Fleecejacke nach draußen, schaute aufs Wasser und spürte die ganze Wonne des Lebens in der Gewissheit, dass ich noch immer die Chance habe, etwas Besseres für mich zu schaffen.
Jetzt gehe ich ins Wohnzimmer, wo ein Wald von gerahmten Familienbildern die Regale füllt: meine Eltern und Barbaras, alle tot; mein Hochzeitsfoto; die Bilder von Barbara und mir mit Nat im Kinder- und Jugendalter. Ein Leben. Am längsten betrachte ich ein Porträt von Barbara, das kurz nach Nats Geburt oben in Skageon aufgenommen wurde. Sie ist ungewöhnlich schön, blickt mit einem leisen Lächeln und einem Ausdruck verträumter Heiterkeit in die Kamera.
Ich habe viel über Barbaras letzte Stunden nachgedacht, in ähnlicher Weise wie mein Sohn, der ihren Schmerz immer so schnell nachempfinden konnte. Ich bin sicher, sie hat sich ausgemalt, wie das alles ablaufen würde. Als während des Prozesses diese Computerbotschaft auf dem Monitor erschien, fragte ich mich, ob sie in der Hoffnung gestorben war, dass es so aussehen würde, als hätte ich sie ermordet, dass sie diese Weihnachtskarte irgendwie als letzte Rache installierte. Doch heute bin ich sicher, dass Nat recht hat. Barbaras letzte Augenblicke waren zutiefst verzweifelt, vor allem, weil sie nicht mehr von mir bekommen hatte. Unglückliche Ehen sind noch komplizierter als glückliche, aber sie hallen stets von derselben Klage wider: Du liebst mich nicht genug.
In den Monaten, während ich auf den Prozessbeginn wartete, habe ich wesentlich mehr an Barbara gedacht als an Anna, die ich endlich überwunden hatte. Ich stand immer wieder vor diesen Fotos, trauerte um meine Frau und vermisste sie manchmal, aber viel öfter versuchte ich zu ergründen, wer sie in ihren schlimmsten Momenten war. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich ihr gegenüber mein Bestes getan habe, aber das wäre nicht wahr. Es ist jetzt fast vierzig Jahre her, und doch habe ich keine klare Vorstellung davon, was ich so tief, so unbedingt von ihr wollte, dass es mich wider alle Vernunft an sie band. Doch was immer es war, es gehört der Vergangenheit an.
Ich stehe im Wohnzimmer. Ich klopfe meine Hemds- und Hosentaschen ab, um mich zu vergewissern, dass ich alles habe, dass ich gewissermaßen noch da bin. Ich bin es. Gleich werde ich in die Innenstadt zu Sterns Büro fahren, um meine Richterlaufbahn an den Nagel zu hängen, eine letzte Wiedergutmachung für all meine Torheiten der letzten Jahre. Und das ist gut so. Ich bin so weit, ich möchte herausfinden, was als Nächstes kommt.